23/01/2018
Ich bin ganz Ohr

Ich bin ganz Ohr

Vor einigen Wochen fragte mich ein junger Mensch, der erst seit kurzer Zeit die deutsche Sprache lernt, nach dieser Redewendung. „Was soll das bedeuten, ist das nicht falsches Deutsch“. Ich erzählte ihm, dass diese Redewendung dem Zuhörer signalisieren soll, dass man ihm ganz aufmerksam zuhört. „Aber der war ganz gestresst und ich glaube, er hat mir gar nicht richtig zugehört“, bekam ich als Antwort. Über beides musste ich nachdenken. Natürlich bin ich viel mehr als nur mein Ohr und doch kann ich mit keinem anderen Sinnesorgan so viele Dinge von einem anderen Menschen wahrnehmen wie mit meinem Ohr. Als Stimmtherapeut ist mein Ohr das wichtigste diagnostische Instrument.

Liebevolle Zuwendung im Zuhören

In der Praxis erlebe ich Menschen, die ganz angefüllt sind mit Eindrücken, die sie mir zunächst erzählen. Tatsächlich bin ich manchmal viele Minuten lang ganz Zuhörer, eigentlich nur Ohr. Eine Antwort oder eine Frage ist völlig unpassend und steht noch nicht an. Umgekehrt kenne ich es auch: Es ist schön und wohltuend, in manchen Situationen einen lieben Menschen zu haben, der ganz Ohr ist. Der sich mir einfach zuwendet und mir zuhört, ohne zu fragen, ohne zu antworten.

Ich kenne aber auch die stressigen Situationen, in denen ich mich einem Menschen zuwenden möchte, aber noch so viele Dinge im Kopf habe oder so viele Störungen von außen auf mich eindringen, dass ich eben nicht ganz Ohr sein kann. Und möglicherweise gehöre ich auch zu denen, die in manchen Situationen ehrlicher sagen sollten: „Jetzt bemühe ich mich, Dir ganz aufmerksam zuzuhören.“ Die übliche Redewendung „Ich bin ganz Ohr“ als Aussage ist da eher frommer Wunsch als wirkliche Realität.

Bedeutsames von Unbedeutsamen unterscheiden

Tatsächlich ist das Ohr ein wahres Wunderwerk der Natur. Es kann mir ungefähr die zehnfache Menge an Sinnesinformationen liefern, wie es das Auge kann. Es ist verbunden mit dem Gleichgewichtsorgan, welches die Lage des Körpers im Raum analysiert. Das Ohr ist für die Aufrichtung und Orientierung unseres Körpers von entscheidender Bedeutung ist. Der Mensch hat dabei eine besondere Fähigkeit: Er kann bedeutsamen Schall von unbedeutsamem Schall unterscheiden. Nur so ist es beispielsweise möglich, uns bei großen Feiern und im Straßenlärm trotzdem zu unterhalten und die Antworten auch noch zu verstehen. Das Gehirn blendet den unbedeutsamen Schall einfach aus und leitet nur noch den bedeutsamen Schall zur Auswertung in die entsprechenden Gehirnareale.

Leider leben und arbeiten viele Menschen heute in einem so lauten Umfeld, dass wir standardmäßig weit über 90 % des Schalls, der in unsere Ohren kommt, als unbedeutsam ausfiltern müssen. Schließlich möchte ich in der U-Bahn nicht die Gespräche meiner Nachbarn verfolgen, ich möchte nicht darüber nachdenken, wann wieder ein Bus durch unsere Straße fährt, und auch im Gottesdienst ist es manchmal eine Gnade, nicht so genau wahrzunehmen, wenn jemand schief singt.
Allerdings kann dabei meine Wahrnehmung etwas abstumpfen. Dann ist ein solcher Filter nicht mehr hilfreich, er verhindert, dass ich Persönliches oder Wichtiges wirklich wahrnehmen kann.

Den Filter der Ohren neu einstellen

Von Zeit zu Zeit besinne ich mich deshalb auf zwei Dinge: Ich suche mir Orte und Zeiten der Stille, in denen wirklich sehr wenige Geräusche in mein Ohr kommen. Ganz praktisch beruhigt sich damit das Trommelfell und auch die Flüssigkeit in meiner Cochlea, die Nerven in meinem Gehörgang geben weniger Meldungen weiter. Und dann versuche ich, Dinge zu hören, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Das ist natürlich am allerschönsten in der Natur. Aber es funktioniert genauso in der Stadt, es funktioniert in meinem Zimmer. Selbst wenn die feinen Geräusche, die ich höre, dann nur die Lüftung meines PCs oder das Surren der kleinen Leuchtstoffröhren an der Decke ist. Vielleicht ist es aber auch der Atem eines Menschen, der mit mir im Raum ist, die Stimme der Nachbarin in der Wohnung über mir, die Waschmaschine, die den letzten Schleudergang dreht.

Mir hilft es, wieder „mehr Ohr zu sein“. Danach fällt es mir leichter, anderen Menschen „mein Ohr zu leihen“ – ihnen aufmerksam und gut zuhören zu können.

Ich freue mich, von Dir zu lesen, wie es Dir damit ergeht, „ganz Ohr zu sein“ und wieder aufmerksamer zuhören zu können.

Bruder Karl-Leo


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Kommentare

  • Ganz Ohr sein, heisst gut zuhoeren..
    Man glaubt, gut zuhoeren kann jeder.
    Aber ist das so?
    Ich habe festgestellt,wirklich zuhoeren,mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme koennen nur wenige Menschen.
    Man ist abgelenkt, gehetzt und gestresst und deshalb ist es um so wichtiger, dass es Menschen gibt, die zuhoeren, ausreden lassen, sich Zeit nehmen und auf mich eingehen.
    Gut zuhoeren koennen ist fuer mich eine ganz besondere Faehigkeit. Dazu gehoert auch, auf die Koerpersprache des Gegenueber zu achten und auf die Wortwahl.
    Guten konzentrierten Zuhoerern wird viel Vertrauen entgegengebracht, deshalb empfinde ich zuhoeren als eine Form von Empathie.
    Und es ist wahr, dass es aeusserst wohltuend ist, Zuwendung von einem verstaendnisvollen lieben Gegenueber zu spueren, der einfach nur „ganz Ohr“ ist.

  • Beim Lesen des Beitrags, von Dir, lieber Karl-Leo, und des Kommentars von Helga (DANKE) waren meine Augen ganz Ohr. Ich denke auch, dass es eine Gabe ist, für jemanden ganz Ohr sein zu können, was ohne Empathie oder das Herz nicht geht (hierzu geht mir eine Abwandlung des Spruches von Saint-Exupéry durch den Kopf: „Man hört nur mit dem Herzen gut“ … oder der Kanon „Schweige und höre, neige Deines Herzens Ohr …“). Hierzu passt aber auch „Wenn das Herz voll ist, geht der Mund über“, also das Gegenüber, das erzählt – unsere Ohren sind ja auf Empfang ausgerichtet. Dabei ist es wichtig, mit wem und aus welchem Anlass kommuniziert wird, wodurch wiederum die Art und Weise des Zuhörens bestimmt wird. Ob ich gut zuhören kann (oder mich mitteilen kann), hängt natürlich auch von meinem inneren Zustand ab, und von den Dingen, z. B. Geräuschen, die sonst noch auf mich einwirken. Die innere Balance kann ich wiederfinden, wenn ich mich jemandem mitteilen kann, der zuhört, wenn ich merke, dass mein Zuhören jemandem gut getan hat, aber auch wenn ich angenehme Dinge höre (z. B. das leise „Üben“ des sommerlichen Gesangs einer Amsel dicht neben mir, das Meeresrauschen oder das erfríschende Rauschen des Regens, ein schönes Musikstück, herzliches Kinderlachen, …) – Dinge, die meine Ohren seit ihrer Entstehung, gelernt haben zu hören und zu mögen; dazu gehört aber auch, dass sie mal auf Durchgang schalten (wenn ich ein fesselndes Buch lese und alles um mich herum vergessen kann).

  • Schoen formuliert, lb.Renate, „meine Augen waren ganz Ohr..“ 🙂
    Beim Zuhoeren ist tatsaechlich vor allem das Herz beteiligt, und es geht nicht nur um das reine Hoeren, sondern vor allem ums Verstehen !
    Deshalb finde ich Deine Abwandlung „man hoert nur mit dem Herzen gut“ so passend.
    Um sich mitteilen zu koennen, braucht es fuer mich Sympathie zum Gegenueber und das Gefuehl seiner Bereitschaft, sich auf mich und meine Geschichte einzulassen.
    Wenn ich selbst bereit bin und mir die Zeit nehme, jemandem zuzuhoeren, bin ich wirklich „ganz Ohr“ und interessiert, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass Menschen, denen es gut tut sich mitzuteilen, mit grosser Dankbarkeit reagieren, was auch mir gute Gefuehle bereitet.
    Meine Sinne kann ich am besten in Stille, aber auch beim Anhoeren von schoener Musik (wie z.B. vor kurzem bei einem wunderbaren und gefuehlvollen Cellokonzert von Dvorak) regenerieren und schaerfen,
    oder wie Du lb.Renate am Meer.

  • Lieber Karl-Leo,
    Ich danke Dir sehr herzlich für diesen sehr interessanten Artikel. Nachdenkenswert war für mich besonders, dass wir durch den heutigen Lärm abstumfen können und uns dann nicht mehr so leicht auf ein Gespräch fokussieren können bzw. wie aufgesuchte Stillendann helfen kann. Aufgehorcht habe ich auch bei dem Satz, dass wir über das Ohr 10 mal mehr Informationen aufnehmen können als über das Auge. Dies interessiert mich deshalb besondern, weil ich mit gehörlosen Menschen arbeite. Letztlich würde es ja bedeuten, dass Gehörlose 10 mal mehr behindert sind als Blinde. Für mich wäre es spannend zu erfahren, welche Kriterien in diesen Vergleich miteingeflossen sind – auch die Sprache?
    Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen.
    Herzliche Grüße
    Brigitte

  • Mir ist zu dem Beitrag eine Anekdote eingefallen. Ein Indianer und ein weißer Amerikaner gehen durch New York. Plötzlich sagt der Indianer: „Ich höre eine Grille!“ – „Unfug“, sagt der weiße Amerikaner, „hier gibt es keine Grillen mehr und man würde sie bei dem Straßenlärm auch gar nicht hören“. Der Indianer aber geht unbeirrt auf eine Mauer zu, biegt das Weinlaub auseinander und sagt: „Siehe, hier sitzt sie“!. „Ihr Indianer haben eben bessere Ohren als wir“, entgegnet der Weiße. Da nimmt der Indianer eine kleine Münze aus der Tasche und lässt sie auf das Pflaster fallen. Sofort drehen sich mehrere Menschen nach dem leisen Klimpern um. „Man hört das, was einem wichtig ist“, sagt lächelnd der Indianer.

    • Vielen Dank für die vielen anregenden Gedanken zum Ohr und zum Hören – auch wenn ich mich schon viele JAhre damit beschäftige, entdecke ich immer wieder Neues für mich, so auch in Euren Beiträgen!

  • Lieber Bruder Karl-Leo,
    Könntest Du bitte meinen Nachnamen au dem Kommentaren oben löschen und nur wie bei den anderen Kommentaren meinen Vornamen nennen. Danke

    Herzliche Grüße
    Brigitte

  • Hallo Brigitte,
    ich sehe Deinen Nachnamen hier gar nicht… von daher weiß ich nicht, was ich jetzt ändern soll.

    Gruß
    David

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