Sonnenblumen - Achtsamkeit

Achtsamkeit – macht es Sinn, darüber noch einen Blogartikel zu schreiben? Hat nicht inzwischen jeder erkannt, dass Achtsamkeit wichtig ist: ein wenig den Atem spüren und schon ist man dabei und macht Achtsamkeit. Der Boom ist zwar noch nicht zuende, aber hat doch vermutlich seinen Zenit überschritten.
Ich will es mit einem Augenzwinkern einmal so formulieren: Wenn Themen bereits im VHS Programm angekommen sind, dann sind sie etabliert. Und Achtsamkeit ist definitiv dort angekommen – und nicht nur dort. Auch in Unternehmen und Betrieben kann man Kurse zur Achtsamkeit finden und die Krankenkassen entwickeln sogar eigene Apps dafür. Ganz schön modern, nicht wahr?
Okay, eigentlich ist also alles bereits geschrieben und gesagt worden.
Fast! Denn ich glaube, dass wir Achtsamkeit weiter fassen können und müssen. Es geht nicht nur um Stressreduktion, sondern Achtsamkeit hat ja ursprünglich einen spirituellen Hintergrund. Kabat Zinn, ein Therapeut aus den USA, hat in den 70er Jahren aus der buddhistischen Achtsamkeit alles Religiöse herausgenommen, um es als Gesundheitsprogramm für Stressgeplagte anbieten zu können. Das war offensichtlich sehr erfolgreich.
Es gab dennoch vielfach Kritik von christlichen Gemeinschaften und Kirchen, dass hier buddhistisches Gedankengut verbreitet wird. Und zugleich wurde von anderer Seite beklagt, dass es im christlichen Glauben keine solche Übung gibt und Achtsamkeit nichts Christliches ist.
Und ich glaube, dass das nicht stimmt. Wir haben lediglich einen ganz anderen Begriff dafür und betrachten die Sache etwas anders und leider nicht mit letzter Konsequenz. Wir sind im Christentum auf halbem Wege stehen geblieben.

Aber fangen wir grundsätzlicher an.

Primat der Wahrnehmung

Wenn wir Achtsamkeit weiter fassen wollen, dann müssen wir zunächst verstehen, was eigentlich hinter diesem Begriff steht. Denn Achtsamkeit bedeutet vor allem ein Primat der Wahrnehmung. Es geht darum, möglichst viel vorurteilsfrei wahrzunehmen und zu spüren. Dabei ist sehr wichtig, dass mir niemand vorgibt, was ich spüre. Jedes Gefühl und jedes Empfinden ist okay und darf wahrgenommen werden. Achtsamkeit funktioniert also nur, wenn sie nicht manipulativ benutzt wird.
Christliche Achtsamkeit als spirituelle Achtsamkeit heißt dann, dass es vor allem darum geht, den inneren spirituellen Raum zu spüren. Es geht also nicht in erster Linie darum, einen Glaubenssatz anzunehmen, sondern diesen inneren Bereich in unserem Bewusstsein. Oder ich gehe in eine Kirche hinein und erlaube mir Augenblicke des Spürens. Oder aber auch, ich gehe in eine bestimmte Kirche nicht, weil ich mich dort unwohl fühle.

Spüren, was ist

Im Kern kann man daher sagen, dass es darum geht zu spüren, was wirklich gerade passiert und dieses Spüren sehr ernst zu nehmen, zugleich auch als Weg der Erkenntnis.
Ich bin mit einem Freund zusammen und wir unterhalten uns und ich spüre eine Sorge in mir oder eine Angst. Dieses Erleben nehme ich ernst und versuche es ins Gespräch zu bringen. Vielleicht wird mir Angst beim Vorhaben des Freundes, vielleicht bekomme ich Sorge bei dem, was ihm passiert ist. Vielleicht scheint aber auch kein naheliegender Zusammenhang zu bestehen und erst, wenn ich meine Gefühle ausdrücke, erkennt der Freund, dass es ihm ähnlich geht. So zumindest funktioniert Achtsamkeit in der Beratung. Indem die Beraterin ihre Gefühle mitteilt, kommen beide zu neuen Erkenntnissen.
Aber so kann ich mich auch in Texte hineinspüren. Einfühlung nannte das Edith Stein. Ich spüre, was mich beim Hören eines Evangeliumstextes berührt, was mich abstößt, was mich bewegt. Und wenn ich diesen Gefühlen folge und sie ernst nehme, kann ich zu tiefen Erkenntnissen kommen.

Alles entwickelt sich

Das Statische ist im Christentum lange Zeit betont worden. Dafür wurden Dogmen gebildet, die etwas für immer und ewig festschreiben. Und es gibt Aufgaben in der Kirche, die sind für immer und ewig, selbst, wenn man sie nicht mehr will. Ein Priester bleibt immer Priester, selbst wenn er sich laisieren lässt. Und selbst die Taufe ist etwas, was irreversibel ist, selbst, wenn ich Buddhist werde oder aus der Kirche austrete.
Und auch die Ehe ist ja einmal und dann immer.

Was ich damit sagen will: Wir haben im Christentum keine gute Beziehung zur Entwicklung. Das Statische wird betont und nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit, dass jemand oder etwas einen Weg zurücklegt, dass sich etwas verändert, an die Umwelt anpasst.
Achtsamkeit aber kennt das Statische nicht, sondern ist etwas, was im Fluss ist. Alles bewegt sich, was ich jetzt spüre, kann gleich vorbei sein. Natürlich gibt es im Fluss der Wahrnehmung auch das Kontinuum. Aber es ist stets möglich und nie verboten, dass sich hier etwas ändert.

Christliche Achtsamkeit

Ich habe lange nachgedacht, warum Achtsamkeit nicht im Christentum entstanden ist, zumal ich Jesus aus den Geschichten der Evangelien heraus als einen sehr achtsamen Menschen erlebe. Und irgendwann wurde es mir klar. Natürlich leitet uns Jesus zur Achtsamkeit an! Wie konnte ich das übersehen?
Nur sprechen wir im Christentum nicht von Achtsamkeit, sondern von Begegnung. Martin Buber hat es so vortrefflich formuliert “Der Mensch wird am Du zum ich” und “Alles wirkliche Leben ist Begegnung”.
Ich begegne meinem Atem und deshalb spüre ich ihn.
Ich begegne meinen Gefühlen, weshalb ich sie fühle. Der Begriff der Begegnung ist unser Begriff für Achtsamkeit. Und Jesus begegnete vielen Menschen und Dingen.
In einem Video habe ich schon mal davon erzählt, wie Jesus Erkenntnis erlangt hat. Auch da sprach ich im Grunde von Begegnung, von Achtsamkeit.
Mit anderen Worten: Willst Du christliche Achtsamkeit üben, dann gehe mit allen und allem in Begegnung. Begegne dem Türknauf, der Kaffeetasse, dem Hund, der Blume, dem Freund. Wirkliche Begegnung – ganz so, wie es Buber so schön beschrieben hat und wie es zu den Grundpfeilern seiner Philosophie gehört.
Und schau einmal im Evangelium nach. Suche Stellen, wo Jesus begegnet und wie er das tut. Du wirst überrascht sein und viele dieser Textstellen werden Dir in einem neuen Licht erscheinen.

Bruder David


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Kommentare

  • Lieber Bruder David, ich möchte mich bei Dir bedanken für die wunderbare Sternzeit, die ich immer wieder mit viel Freude und Aufmerksamkeit genieße.Einiges habe ich versucht, zu verinnerlichen, werde versuchen, noch weiter mich darin zu stärken, denn ich spüre, wie mir Deine guten Gedankenanstöße sichtlich gut tun!
    Mit freundlichem Gruß Ilse Hippler

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