Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre waren die Bücher von Alice Müller sehr bekannt und beliebt. Gerade von uns Studenten wurden sie gerne gelesen. Und ich kann mich noch gut erinnern, wie spannend das Buch “Das Drama des begabten Kindes” oder etwa “Am Anfang war Erziehung” waren. Sie haben mir eine ganz neue Sichtweise von Erziehung, Bildung, vom Kind, ja vom Menschen gegeben. Alice Miller war im Grunde eine Verfechterin der antiautoritären Erziehung. Sie warb sehr intensiv dafür, dem Kind seinen freien Raum und seinen freien Ausdruck zu lassen. Nur dann, so ihre Meinung, kann sich ein Kind gesund entwickeln und wird es nicht zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen, die wir heute Traumata nennen.
So hat sie beispielsweise die Kindheit von Adolf Hitler untersucht. Sie wollte wissen, welchen Anteil Erziehung an dem Werdegang Hitlers hatte. Sehr beeindruckend stellte sie dar, wie er durch Demütigungen selber verletzt wurde und dann begann, andere zu verletzen, zu töten, zu beherrschen und alle Grausamkeiten zu befehlen und zu erdenken, von denen wir wissen.
Damit wollte sie nichts entschuldigen, sie war ja selber eine Überlebende des Warschauer Ghettos. Vielmehr wollte sie über die Wirkung bestimmter Erziehungsstile aufklären.
Wenig später bekam ich ein anderes Buch in die Hand, auf das sich Alice Miller immer wieder bezog. Es trägt den besonderen Titel: “Schwarze Pädagogik” und wurde von Katharina Rutschky geschrieben. Darin hat sie zahlreiche Belege aufgeführt, wie brutal und verachtend Erziehungsratgeber der letzten Jahrhunderte über Kinder sprechen und welche fatalen Empfehlungen ausgesprochen wurden. Wirklich erschütternde Texte.
In den letzten Wochen habe ich viel über die vielen spirituellen Texte nachgedacht, die in dem fiktiven Buch: “Schwarze Spiritualität” stehen müssten. Nach all den Missbrauchsskandalen, den Gewaltexzessen in manchen kirchlichen Kinderheimen, der Gewalt, die in vielen christlichen Familien herrschte (und natürlich nicht nur dort): Muss man sich nicht angesichts dessen die Frage stellen, ob wir nicht einen neuen Blick auf all die spirituellen Texte werfen sollten, die Gewalt insbesondere gegenüber Kindern und Jugendlichen als gebotene Tat hinstellen?
“Daher gelte: Knaben und Jugendliche oder andere, die nicht recht einsehen
können, was die Ausschließung als Strafe bedeutet,
sollen für Verfehlungen mit strengem Fasten oder mit kräftigen Rutenschlägen
bestraft werden. Sie sollen dadurch geheilt werden.” Regel Benedikts 30,2-3
Die Regel Benedikts wird in den Klöstern weltweit dreimal im Jahr ganz vorgelesen. Und in wenigen Wochen werden wir diesen und andere Texte wieder einmal hören, wo es um Strafe und insbesondere um Rutenschläge und Ausschließung geht. Nun hat ohne Zweifel auch eine Gemeinschaft das Recht, sich zu schützen und ggf. jemanden aus der Gemeinschaft zu entfernen. Und natürlich sind diese Texte in einem zeitlichen Kontext zu sehen und nur so überhaupt annähernd verständlich. Dennoch: Dürfen wir solche Texte überhaupt heute noch vorlesen? Wir lesen sie ja nicht vor, um darüber zu diskutieren, sie zu problematisieren. Sie werden teilweise im Gottesdienst, bei Meditationen oder in Gruppenarbeiten als vorbildliche Texte vorgelesen. Sie werden uns als Texte empfohlen über die es lohnt, nachzudenken.
Daher meine Frage: Dürfen wir das überhaupt noch? Müssen wir nicht aufräumen und endlich Schluss machen mit der Gewalt verherrlichenden Sprache vieler spiritueller Texte?
Die Frage betrifft übrigens nicht nur christliche Texte:
Meister Gutei erhob seinen Finger, wann immer man ihm eine Frage über Zen stellte. Ein junger Diener begann ihn darin nachzuahmen. Wenn jemand den Jungen fragte, worüber sein Meister gepredigt habe, so erhob er seinen Finger. Gutei hörte von dem Unfug des Jungen. Er packte ihn und schnitt ihm den Finger ab. Der Junge schrie und lief davon. Gutei rief ihm nach und hielt ihn zurück. Als der Junge seinen Kopf zu Gutei wandte, erhob Gutei seinen eigenen Finger. In diesem Augenblick wurde der Junge erleuchtet. Als Gutei dabei war, diese Welt zu verlassen, versammelte er seine Mönche um sich. „Ich erhielt mein Finger-Zen“, so sagte er, „von meinem Lehrer Tenryu, und in meinem ganzen Leben konnte ich es nicht ausschöpfen.
Ist es wirklich lobenswert, einem Jungen einen Finger abzuschneiden?
Man kann das natürlich einfach so als Geschichte abtun und es ist vermutlich auch “nur” eine Geschichte und kein historischer Bericht. Dennoch will ich nicht locker lassen: Sind solche Geschichten wirklich vorbildlich?
Und ich erinnere mich noch an ein anderes Buch. Jack Kornfield, ein amerikanischer Meditationslehrer, den ich wirklich sehr schätze, hat es geschrieben. Er berichtet darin, wie die jungen Novizen eines vietnamesischen Klosters nachts in den Wald geführt werden. Dort sollen sie sich in der. Meditation üben. In diesem Wald aber leben wirklich gefährliche und bedrohliche Tiere. Jack Kornfield beschreibt diese Begebenheit, ohne sie in irgendeiner Weise zu hinterfragen, er stellt sie einfach so dahin und findet es offenbar auch noch gut.
Es kann durchaus sein, dass einige oder viele der teilnehmenden Novizen daran gewachsen sind. Aber man kann mir nicht weiß machen, dass es allen so erging und dass nicht auch sensiblere Novizen dabei waren, die diese Anweisung gar nicht so lustig fanden.
Ich habe oft den Eindruck, dass wir geneigt sind bei spirituellen Autoritäten sehr lange sehr viel Gnade walten zu lassen.
So war es vermutlich auch bei dem sehr berühmter tibetischen Lama Sogyal Lakar
Hier ein Auszug aus Wikipedia zu ihm:
Nachdem Sogyal Lakar bereits seit längerem Verschwendungssucht, körperliche Gewalttaten und sexueller Missbrauch von jungen Frauen vorgeworfen worden waren, berichtete die Süddeutsche Zeitung am 11. August 2017 in einem ausführlichen Artikel über diese Vorwürfe. Sogyals ehemalige Mitarbeiterin Oane Bijlsma sagte dort:
"Wir haben bei seinem Besuch in Amsterdam eine Suite in einem Fünf-Sterne Hotel für Sogyal angemietet, zusätzlich ein Haus für ihn und noch ein Haus für seine Gespielinnen und Köche [...] Ich lief mit dicken Bündeln Bargeld durch die Geschäfte, um die hochwertigsten Steaks einzukaufen. Das war absurd."
Ich erwähne diese Fälle, um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um ein spezifisch christliches Problem, sondern um ein spezifisch religiöses Problem handelt.
Deshalb plädiere ich für einen Glauben und eine Religion ohne Meister, oder Meisterinnen, ohne patriarchale Strukturen, ohne monarchische Anwandlungen und Symbole, ohne Titel und Ehrenbezeichnungen.
Und ich plädiere für eine Religion, die sich selbst hinterfragt und nicht Texte nutzt, die (gewiss aus heutiger Sicht) menschenverachtend sind.
Gewalt hat im Glauben und der Spiritualität nichts zu suchen.
Wenn Alice Müller noch leben würde, vielleicht würde sie dann ein Buch über all diese Texte schreiben und das Leben von Menschen untersuchen, die im spirituellen Kontext Gewalt erfahren musste.
Aber auch hier ist Vorsicht angesagt: Vor ein paar Jahren schrieb ihr Sohn Martin das Buch ”Das wahre “Drama des begabten Kindes”. Darin beschreibt er, wie kühl und abwesend seine Mutter war. Sie war nicht die liebende Mutter, die dem Sohn den freien Raum gab.
Das Problem lauert offenbar überall.
Aber wenn ohne Meister … , von wem sollen wir dann lernen? Nur von unserer eigenen „Weisheit“? Sind wir denn besser?
Ich finde, es kommt eher auf den Umgang mit den Meistern an, darauf, die Absicht und die Umstände zu hinterfragen, nicht einfach nur blind zu kopieren.
Sonst müsste man auch die Bibeltexte zensieren. Aber nach wessen weisem Maßstab…?
Es geht ja nicht darum, nichts mehr zu lernen, ganz im Gegenteil. Es braucht viele Menschen, von denen wir uns inspirieren lassen und die Anstöße zum Nachdenken geben. Das brauchen wir alle! Es geht auch nicht um Zensur – nichts soll gestrichen oder einfach verschwinden. Nur eben als spirituellen Text würde ich nicht einfach jede Bibelstelle heute noch hernehmen. Ich finde die Opferung Isaaks beispielsweise hoch problematisch. Da kann man mir noch so viel exegetisches Wissen geben. Das Faktum der Geschichte bleibt für mich mehr als fragwürdig. David
Ja, sowas ist auf den ersten und zweiten Blick sehr befremdlich und schwer verdaulich.
Aber es steckt auch viel drin und ich würde nicht darauf verzichten wollen.
Ohne Chef und Meister wird auch gerade in der New Work Szene diskutiert – Selbstorganisation und Holokratie sind die neuen Buzz Words – oder, um es mit den Worten Luthers auszudrücken: „Das Priestertum aller Gläubigen!“ – Immanuel Kants „selbstverschuldete Unmündigkeit“ ist ja noch lange nicht überwunden und gerade „Kirche“ als riesiger bürokratischer Apparat sträubt sich natürlich gegen jede Art von „Change“ – so gesehen war die „Reformation“ nicht wirklich erfolgreich – hat nur ein altes durch ein neues Regime ersetzt – und bei den sog. „Meistern“ geht es häufig gar nicht um Weisheit, sondern um Macht und Einfluss – wo sind die Meister, die uns weise, ehrlich und liebevoll führen?
Dahinter steckt natürlich eine ganz andere Grundhaltung und Philosophie. Wenn ich davon ausgehe, dass ich den Menschen von außen weder verändern kann noch etwas von außen „eintrichtern“ kann (und das leben zeigt uns das im Grunde jeden tag), dann gibt es ohnehin nur noch die Möglichkeit, Impulse zu setzen oder eben zu zwingen. Letzteres kommt natürlich nicht in Frage (höchstens im Zuge des Strafvollzugs). Und hinzu kommt, was Sie beschreiben. Wir verstehen immer mehr den Menschen als selbstorganisiertes und mündiges Wesen, das Fachmann/Fachfrau für eigene Belange ist. Vielen Dank für Ihren Kommentar. Bruder David
Dann ist es eine Frage der Defonition.
Wenn man unter „Meister“ einen versteht, der andere zwingt oder zu zwingen versucht, dann gebe ich dir völlig Recht.
Ach, wer sollte mich schon zwingen?! Es geht mir um die Menschen, die sagen: Ich weiß es! Ich kann es! Und die Menschen, die sagen: Du weißt es und Du kannst es! Es geht mir um die Menschen, denen unhinterfragt vertraut wird, denen nicht aufgrund menschlicher Qualität zugehört wird, es geht mir um die Menschen, die aus dem Haben und nicht aus dem Sein leben, denen äußerliche Zeichen viel zu wichtig sind, die auf ihren Titel großen Wert legen und das alles im Zeichen Gottes, des Göttlichen, eines größeren Seins oder wie auch immer man die transzendente Größe beschreibt, auf die man sich bezieht und zu der eben solche Menschen meinen eine exklusive Beziehung pflegen, die andere nicht haben. Darum geht es mir.
„Ich weiß es!“ – Du weißt es!“
So ist es: Es gehören, außer im Fall von Machtmissbrauch gegenüber Schwächeren, immer zwei dazu.
Nochmal zum Beispiel der Bindung Isaaks:
Es ist ja erst mal eine individuelle Geschichte zwischen Gott und Abraham. Ich bin nicht aufgefordert, die Opferung von Kindern (die ja gar nicht geschehen ist) gutzuheißen oder nachzuahmen; es ist eine persönliche Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Abraham.
Nicht: Jeder muss dasselbe tun. Oder: Jeder muss in blindem Gehorsam und gegen sein Gewissen sein Liebstes umzubringen bereit sein. (Falls es überhaupt das sein sollte, was Abraham getan hat – „Gott wird sich ein Lamm ausersehen“, sagt er.)
Warum interpretieren wir das so leicht so brutal und radikal?! Woher kommen solche Auslegungen und warum überhören wir die vielen anderen Aspekte? Unsere Abwehr gegen eine solche Geschichte, weil wir uns automatisch mit Abraham als Vater oder Isaak als Kind identifizieren? Unsere heimliche Neigung zu dramatischer Radikalität? Zum Abklatsch? …?
Mich hat die englische Version des Schlusses mal völlig weggehauen, weil ich es ganz neu gehört habe: „Because you have not held back your only son“ – was Gott *selbst* nicht getan hat, der sich *selbst* preisgegeben hat.
Ich weiß nicht, was an der Opferung eines Kindes nicht brutal sein soll? Was ist daran denn nur Interpretation? David
Das Kind ist nicht geopfert worden, auch wenn die Situation schlimm genug war.
Aber was ich meine, ist die brutale Schlussfolgerung, man müsste das Szenario konkret als Vorbild betrachten und nachahmen.
(Übrigens schickt das System keine Benachrichtigungen über Antworten mehr.)
Die Bibel erzählt ja in weiten Teilen ungeschminkt und ungeschönt vom Leben. Das ist oft nicht nett.