„Was ist der Mensch…?“ Psalm-Verse aus dem Leben verstanden
Welcher Psalm-Vers gefällt Dir besonders gut oder hat für Dich persönlich eine besondere Bedeutung?
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Psalm 139,9
Als aufgeklärte Christin glaube ich, dass Adonaj (hebräisches Wort, meist über setzt mit „Herr“) nicht allmächtig ist, aber, dass bei Jenen ist, die traurig sind, leiden oder die eine tiefe Sehnsucht umtreibt.
Wie würdest Du den Vers in Deiner eigenen Sprache formulieren und welche Bedeutung hat der Vers für Dich persönlich?
Mit Tönen klänge er wunderbar. (Georg Philipp Telemann hat ihn vertont, Rezitativ in der Kantate Nr. 19 aus „Harmonischer Gottesdienst“)
Wo auch immer ich bin
im tiefsten Dunkel meiner Trauer
in meiner Sehnsucht nach Liebe
in meiner Trostlosigkeit
in meiner Angst
bist du da und du hältst mich
du bewahrst mich vor dem Sturz in die Tiefe.
Mir hat dieser Gebetsvers in den Phasen meines Lebens Kraft gegeben, in denen ich mich sehr allein gelassen fühlte und nicht mehr weiter wusste. Z.B., als meine erste Ehe scheiterte und ich mit 21 Jahren als Studentin plötzlich ganz allein für meinen kleinen Sohn verantwortlich war. Wie ein Mantra habe ich damals diesen Vers geschrieben und gesprochen.
Als der Psalm aufgeschrieben wurde, fürchteten die Menschen noch, dass die Erde eine Scheibe sei und so dachten sie, dass er/sie am äußersten Meer in etwas Unendliches und Dunkles herunterfallen werde. Unvorstellbar war auch, dass Menschen fliegen könnten – und somit war es das denkbar Fernste, was angenommen wird und auch ist Gott und seine/ihre Hand hält den/die Fallende.
Ich habe diesen Psalm auch häufig mit Menschen gebetet, die sich auf ihr Sterben vorbereiten mussten. Er wirkt tröstlich, die Wortbilder sind wunderschön. Sie vermitteln Mütterliches und Väterliches. Die „Ich“ -Form ist beruhigend für Geist und Seele. Die Klangfarbe ist hell: Sopran oder Tenor. Der basso continuo des Psalmes 139 ist für mich: „Ich, Gott, bin da. Ich bin für dich da. Ich sehe Dich und halte Dich. Fürchte dich nicht.“
In welcher Lebenssituation könnte man diesen Vers jemandem an die Hand geben?
Einem Paar, das sich trennen wird.
Einem Menschen, der sich – wegen einer schweren Erkrankung – auf das eigene Sterben vorbereiten muss.
Einem Menschen, der von Ängsten geplagt ist und sich nicht traut, aus dem Haus zu gehen.
Einem Kind, für das wesentliche Veränderungen anstehen (z.B. Umzug) – in kindgerechter Sprache.
Einer/einem Jugendlichen, der sich vor der Pubertät und dem Erwachsenwerden fürchtet.
Einem Menschen, der traumatisiert ist – z.B. durch Erfahrungen auf seinem/ihrem Fluchtweg.
Angenommen, der Vers wäre der Titel eines Filmes – wovon würde der Film handeln?
Titel: „Aurora“ mit Bruce Willis und Susan Sarandon
Ein Science fiction Film, in dem das Gute siegt und die Menschheit vor einer großen Katastrophe bewahrt wird.
Hanna Kreisel-Liebermann
geb. 1955,
Wohnort: Hannover
Pastorin der evangelisch-lutherischen Marktkirche