Die Kirche sei an einem „toten Punkt“, hat Kardinal Reinhard Marx in seinem Rücktrittsgesuch geschrieben. Und seitdem denken Kommentierende aller Couleur über diese Redewendung und ihre Bedeutung nach. Auch ich habe diese Redewendung schon verwendet, aber seit der letzten Woche hat sie mich wieder mehr interessiert. Es ist doch ursprünglich eine körperliche, eine muskuläre Erfahrung. Was passiert da eigentlich und wie kommt man gut über den toten Punkt? Lässt sich aus der körperlichen Erfahrung etwas für den Umgang mit einem toten Punkt im übertragenen Sinne lernen?
Ein Gefühl der völligen Erschöpfung
Sportmedizinisch ist der tote Punkt relativ klar zu beschreiben: ein bei Dauerleistungen auftretendes vorübergehendes Gefühl der völligen Erschöpfung, das durch eine zu hohe Konzentration von sauren Stoffwechselzwischenprodukten (z. B. Milchsäure) in der arbeitenden Muskulatur und auch im Blut hervorgerufen wird. In der Kinetik wird ein toter Punkt als der Zustand beschrieben, wenn mehrere widerstrebende Kräfte einen Stillstand bewirken.
Eigentlich ist es also ein zunächst sportliches Phänomen. Wenn unser Organismus bei intensiver sportlicher Betätigung ein Sauerstoffdefizit aufbaut und die Muskeln ermüden und sich schwer anfühlen, drosseln wir normalerweise instinktiv unser Tempo. Durch diese niedrigere Belastung braucht der Körper wieder weniger Sauerstoff und pendelt sich darauf ein, dass sich Energieleistung und Sauerstoffverbrauch die Waage halten. Wenn das Sauerstoffdefizit abgebaut ist, atmet es sich wieder leichter und die Muskeln sind nicht mehr so schlaff. Dann fühle ich mich wieder frischer. Körperlich ist der Umstellungsprozess gelungen, wenn Sauerstoffaufnahme und -verbrauch wieder im Gleichgewicht sind.
Überhörte Signale
Nur wenn ich verbissen weitermache, obwohl mir der Körper längst das langsamere Tempo signalisiert hat, kann es bis zum toten Punkt kommen. Und auch dann muss ich eigentlich nichts anderes tun, als die Energieleistung und den Sauerstoffverbrauch wieder in ein Gleichgewicht zu btingen.
Und doch spüre ich immer wieder, wie leicht man darüber reden (und sogar schreiben) kann und wie schwer es ist, wirklich schon vor den toten Punkt für den Ausgleich zu sorgen. Eben fragte mich mein Physiotherapeut, nachdem er meine Halsmuskeln behandelt hatte, ob ich nicht doch ein wenig Stress hätte. Innerlich musste ich schmunzeln, denn ich hatte die ersten Gedanken für diesen Artikel schon gesammelt und musste ihn nur noch zu Ende schreiben. Eine kleine Einladung, hinter den toten Punkt zu kommen – vielleicht sogar nicht durch den toten Punkt zu müssen, weil ich doch noch rechtzeitig auf die Signale meines Körpers (und die Mahnung meines Physiotherapeuten) gehört habe
Der fruchtbringende Weg
„Die Krise anzunehmen, als einzelner und als Gemeinschaft, das ist der einzige fruchtbringende Weg“. Das schreibt der Papst in seiner Antwort. Ich gestehe, die Tiefe dieses Satzes ist mir nicht bei ersten Lesen aufgegangen. Aber ich entdecke immer mehr, wie mir dieser Blick in den Ermüdungen meines Alltags hilft – ganz körperlich und auch darüber hinaus. Eigentlich muss ich nicht viel tun: nicht verbissen weiter machen, sondern den Körper in ein Tempo bringen, in dem er wieder in das Gleichgewicht kommt.
Und ich freue mich wieder, von Dir zu lesen, welche Erfahrung Du mit solchen Punkten der Erschöpfung gemacht hast.
Bruder Karl-Leo Heller OSB
Lieber Bruder Karl Leo,
nach einem Unfall mit Stammhirnerschütterung ist mir mal hören und sehen durcheinander geraten, nicht vergangen. Keine unserer üblichen Abmachungen über ich fahre …galten nicht mehr, ich blieb an Ort und Stelle und die Straße kam, manchmal war die Welt zweidimensional. Nun wohne ich im Norden und bin jeden zweiten Tag an die Weser gefahren um zu sehen, ob es wenigstens noch Ebbe unf Flut gibt. Nach kurzer Zeit wurde mir klar, wenn Ebbe und Flut bleiben,Tag und Nacht verlässlich wechseln, dann gibt es auch tragendes Göttliches und es wird immer, wirklich immer eine gute Wendung geben, egal wie groß das Chaos und wie schmerzlich das Erleben ist. Das ist zwanzig Jahre her und war nach 3 Jahren wieder in Ordnung, das Vertrauen ins Leben und in Gott ist seitdem nahezu unerschütterlich. Wenn mal wieder Chaos angesagt ist bringe ich mich mit Schwimmen oder langem Gehen wieder ins Gleichmaß.
Mit den besten Wünschen für den synodalen Weg, liebe Grüße Ulrike
Liebe Ulrike,
vielen Dank für diese sehr persönlichen Zeilen. Es ist doch immer wieder ermutigend zu lesen, wenn gerade in solchen existenziellen Zeiten das Vertrauen in das Leben un din Gott so wachsen kann.
Liebe Grüße Br. Karl-Leo