Lebensgeschichte als Ressource

Deine Lebensgeschichte als Ressource

Das Leben hält wahrlich viel für uns bereit. Im Laufe unseres Lebens kommen zahlreiche Erfahrungen auf uns zu. Vor ein paar Tagen hatte ich Geburtstag und ein solcher Tag ist für mich immer Anlass, genau darüber nachzudenken. Was hat mir das Leben gebracht? Woraus lebe ich? Gibt mir mein bisheriges Leben Rückenwind oder nimmt es mir Kraft und Energie?
Es sind Fragen, die man sich meistens nicht mit 16 oder 20 stellt. Erst wenn man beginnt, Geschichte zu haben bzw. wenn man sein bisheriges Leben als Geschichte erlebt und wahrnimmt, kommen solche Fragen und Gedanken.

Eine Kindheit kann schlimm sein, dennoch!

Viele Menschen hadern mit ihrem Leben. Vieles ist geschehen: miserable Kindheit, schlechte Eltern, üble Schulkollegen, unterdurchschnittliche Lehrer, einen Partner zum Weglaufen, der Arbeitsplatz zum übel werden, kein Geld, Krankheit, na, fehlt noch etwas?
Vielleicht hast du nur einen Extrakt davon erlebt (ich hoffe es), aber viele haben genügend Gründe, die Vergangenheit als besonders dunkel und schlimm zu beschreiben.
Ich will hier nichts wegwischen und schön reden: vieles ist schlimm gewesen und niemand will dir deinen Schmerz nehmen und bagatellisieren.
Dennoch: es gibt auch die andere Seite und die möchte ich dir hier aufzeigen bzw. einige Tipps geben, wonach du einmal schauen solltest, um Deine Lebensgeschichte als Ressource zu verstehen.

1. Tagträume

Wer keine schöne Kindheit gehabt hat, der hat damals meistens Tagträume gehabt. Manche haben sich in Gedanken in ein fernes Land gebeamt, in eine andere Familie, in Filme, Märchen, auch viele Stars sind nichts anderes als Tagträume, manchmal können auch religiöse Bilder und Vorstellungen aus Tagträumen bestehen.
Solche Tagträume zu entwickeln ist ein gesunder Mechanismus auf eine kranke Umgebung. Die Seele produziert sich selber Sicherheit, Geborgenheit, Bedeutung, Liebe, der Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Solche Tagträume sind Zeiten der Regeneration für die Seele und Zeiten besonderer Belastung.
Wenn du deine Tagträume wertschätzen kannst und siehst, dass dahinter ein gesunder Mechanismus steckt, dann können diese Vorstellungen dir auch heute helfen. Du weißt dann, dass in dir etwas ganz Gesundes ist, etwas, was dich heilen und fördern will.
Zugleich geben dir die Träume von damals Auskunft über deine Sehnsüchte und Bedürfnisse.
All das kann für dich heute eine Ressource sein, kann dir Kraft geben, kann das Vertrauen in dich stärken und dich mit deinem Inneren verbinden.

2. Stille Freunde

Ja, vielleicht hattest du nur wenige Freunde, ja, vielleicht warst du viel und oft alleine. Mag sein! Aber dennoch glaube ich daran, dass die meisten auch stille Freunde hatten. Wer die sind?
Das sind Menschen, die es gut mit dir meinten, die freundlich zu dir waren, die dich nett gegrüßt haben, die dir etwas gaben, die nachsichtig mit dir waren, die dir ein Lächeln schenkten. Das kann eine Verkäuferin im Supermarkt gewesen sein, die dich freundlich bediente oder grüßte, ein Nachbar, der dir die Tür aufhielt, eine Lehrerin, die dich anständig behandelte…
Mach dich einmal auf die Suche nach solchen Menschen. Oft vergessen wir sie, denken nur daran, dass uns Freunde fehlten und sehen nicht, dass wir stille Freunde hatten, die sehr wohlwollend zu uns waren.
Solche Menschen können eine sehr große und kraftvolle Ressource für uns sein.

3. Orte meiner Kindheit und Jugend

Jeder hat seine eigene Topographie, ein jedes Leben besteht aus vielen Orten – selbst, wenn man niemals umgezogen ist. Und jeder hat Orte, die gut tun. Das können auch Wege und Straßen sein oder Flüsse. Dorthin haben wir uns zurückgezogen, sind wie von selbst dahin gegangen, dort konnten wir aufatmen, vielleicht gerade dann, wenn niemand bei uns war, dort war es friedlich, dort störte niemand, du warst ganz bei dir, warst verbunden mit der Natur, mit Gott. Ja, vielleicht war es sogar die Kirche in der Umgebung.
Solche Orte leben in uns weiter und wenn wir uns in Gedanken dahin bewegen, dann entwickeln wir wieder das gleiche Gefühl und das gleiche empfinden.
Daher ist es so wertvoll, wenn du dir die Orte deines Lebens einmal aufschreibst und sie sammelst. So kannst du dich immer wieder mit dem Guten, Sicheren und Geborgenen verbinden – wann immer du willst.

4. vergessene Erfolge

Von wegen dein Leben ist eine Geschichte von Misserfolg und Niederlage. Das kann nicht stimmen und es ist falsch. Ja, manches ist vielleicht nicht so gelaufen, wie du es dir vorgestellt hast und manches wünschte ich wäre wirklich besser anders geschehen. Aber du vergisst, dass jeder auch eine Erfolgsgeschichte hat.
Kannst du schreiben? Kannst du laufen? Kannst du Auto fahren? Kannst du sprechen? Kannst du zählen? Vielleicht kannst du malen, kannst gut singen, kannst Geschichten erfinden und Essen und Trinken genießen. Ja, das hast du gelernt, das sind alles Dinge, die du geschafft hast. Vielleicht nicht alles, aber einen großen Teil der Dinge, die ich gerade aufgezählt habe. Und sag jetzt nicht: Ach, das kann doch jeder, das ist doch normal, was ist daran schon Besonderes? Es gibt genügend Analphabeten auch in unserem Land, die können ein Lied davon singen, wie “normal” es ist lesen zu können. Es gibt genügend Menschen, die nicht mehr oder noch nie laufen konnten, die kein Lied singen und kein Bild malen können. Aber du sagst: Alles normal?
Schau dir deine Erfolge einmal an und nimm sie ernst und schätze sie wert. Auch wenn es vielleicht einiges gibt, was du verpasst hast oder was nicht geklappt hat. Es gibt auch die andere Seite und das sind deine vergessenen Erfolge.

5. Achtung: du lebst!

Egal was passiert ist, egal was war und was man dir vielleicht angetan hat. Denk daran: du lebst! Nichts hat es bisher geschafft, dich zu vernichten, dich am Leben zu hindern. Niemand konnte bisher dafür sorgen, dass du nicht mehr da bist. Du hast die Kraft gehabt, das alles zu überleben. “Du lebst” heißt: in dir ist mehr Kraft und Energie, als du glaubst, mehr Lebenswille als du denkst, mehr Überlebenskraft, mehr Lust und Freude am Leben, als du aufzählen kannst.

6. Was hast du gelernt?

Überleg einmal, was du aus den schwierigen und problematischen Situationen in deinem Leben gelernt hast. Man kann, und davon bin ich fest überzeugt, aus allen Situationen etwas lernen. Wenn wir diesen Schatz heben, dann können wir auch den schlechten Zeiten des Lebens einen gewissen Sinn abringen und erkennen, das alles hat mich viel gelehrt. Man kann zum Beispiel lernen, nicht allen Menschen blindlings zu vertrauen. Man kann auch lernen, dass man sehr viel Kraft und Energie in sich trägt, dass man auch durch schwierigste Zeiten gehen kann, dass man große Herausforderungen meistert, dass niemand einen unterkriegen kann … und vieles mehr. Mach dir eine Liste von Situationen und problematischen Menschen und schreib daneben, was sie dich über das Leben gelehrt haben.

7. Kinderspiel

Überleg einmal, was du als Kind gerne gemacht hast? Also ich habe gerne getanzt, habe wunderbare Pirouetten gedreht, haben mit sehr viel Leidenschaft mich nach Opernouvertüren bewegt und war glücklich. Vielleicht hast du gerne gemalt oder gehäkelt, oder Plätzchen gebacken oder die Katze gestreichelt oder was auch immer. Es könnte doch eine schöne Idee sein, dass du immer dann, wenn du es brauchst, das Gleiche heute wieder tust? Naja, vielleicht nicht gleich öffentlich, sondern so ganz für dich in der Wohnung. Denn offensichtlich wird Dein Kinderherz davon berührt und beseelt und das ist gut. Es ist immer gut, wenn man zu seinem Kinderherzen eine gute Beziehung hat und wenn man gut für es sorgt. Diese Spiele und Handlungen können dadurch eine wunderbare Ressource für dein heutiges Leben sein, da sie dich mit dem Kinderherzen verbinden.

8.Kinderbücher

Das gleiche gilt auch für die Bücher deiner Kindheit und Jugend. Vielleicht hast du noch einige – manchmal bekommt man sie günstig als antiquarische Bücher bei Amazon. Lies sie und du bist mitten in deiner Kindheit – und vermutlich nicht in der dunkelsten Zeit. Bücher (und natürlich auch Filme und Hörspiele) waren und sind für viele ein Ort der Entspannung, eine Zeit, wo man schwierigen Situationen entfliehen kann. Auch das kann dich wieder mit deinem Kinderherzen in Verbindung bringen.

Es gibt also genügend Dinge, Aspekte und Bereiche in jeder Kindheit, die dir auch heute noch Kraft und Energie geben können. Ich wünsche dir sehr, dass es dir gelingt, daran anzuknüpfen und dass du deine Kindheit und Jugend von einer anderen Seite zu sehen lernst. C. G. jung sagte einmal: Es ist nie zu spät, eine gute Kindheit gehabt zu haben.
In diesem Sinne: Mach dich auf!
Und jetzt würde mich deine Meinung und auch gerne deine Ergänzung dazu interessieren. Schreib doch einen Kommentar dazu!?

Bruder David


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Kommentare

  • Ich schließe mich Wehmschulte an. Meine negativen Erfahrungen, meine sogenannten Misserfolge sind leider viel stärker an der Oberfläche meiner Erinnerungen als all die guten Erfahrungen, die ich auch machen konnte.

    Eine ganz besonders positive Erfahrung ist mir beim Lesen des Artikels eingefallen. Beim Warten an einem englischen Fährhafen hatte ich unabsichtlich zwei Ehepaare übersehen und mich an die Spitze der Schlange gestellt. Es folgte heftiger Protest und ich habe mich furchtbar geschämt … bis eine der Ehefrauen mich ansah und sagte: „Sie tragen eine wunderschöne Halskette!“ – damit war der Bann gebrochen und aus dem unangenehmen Erlebnis ein sehr positives geworden. Und nicht nur das. Ich nehme es als Muster für Situationen, in denen man sich gegenseitig aus der Verlegenheit heraushelfen muss.

    • Das ist eine sehr schöne Geschichte! Bei uns allen sind die negativen Erinnerungen oft größer und massiver. Aber das heißt nicht, dass wir dem hoffnungslos ausgeliefert sind. Es ist unsere Gewohnheit. Wir können es lernen die anderen Dinge stärker wahrzunehmen – gewiss mit viel Übung. Aber es geht! Gruß, Bruder david

  • Lieber Bruder David,
    DANKE für diesen Gehalt-vollen Text, mit dem Sie uns daran erinnern, welche Schätze wir in uns, mit uns, tragen. Und – Vielen Dank für das „Handwerkszeug“, das uns helfen kann, sie zu auf-zu-spüren, zu ent-decken und vielleicht sogar, zu bergen.
    Liebe Grüsse Heiderose

  • Lieber Bruder David,
    vielen Dank für diesen schönen Beitrag. Völlig neu war für mich der Aspekt „Stille Freunde.“ Und „Stille Freunde“ können sogar „beste Freunde“ gewesen sein, was mir jetzt erst bewusst wurde und wofür ich dankbar bin. Vielleicht auch eine schöne Jahresaufgabe, jemandes „stiller Freund“ zu werden. Dazu passt auch der altbekannte Spruch: „Tu Gutes und rede nicht darüber.“ Deinen Beitrag werde ich noch öfter lesen, er enthält einige Impulse, denen ich nachgehen möchte.
    Beste Grüße in die Cella

  • Ein sehr schöner Artikel ist mir da zufällig in die Hände gefallen. Ich (1938) habe in meinem Leben doch unbewusst vieles richtig gemacht. Als vor etwa 30 Jahren meine Vergangenheit vor allem nachts und bei Krankheiten immer stärker in den Vordergrund rückte, habe ich angefangen alles aufzuschreiben. Es wurde zunächst noch schlimmer. Ich stand nachts auf und schrieb, fügte Vergessenes ein, aber langsam freute über das Ergebnis. Ich habe alles ausgedruckt, mit Nadel und Faden miteinander verbunden, verleimt und mit einem Umschlag versehen. Zwei Bücher mit je 100 Seiten sind so entstanden. Ich kann jetzt immer nachlesen und Erklärungen finden. Meine schlimmen Träume sind verschwunden.

    • Hallo Helmut, es ist sicherlich ein gutes Gefühl festzustellen, dass man im Leben vieles richtig gemacht hat. Ganz intuitiv hast Du zum Stift gegriffen und hast Deine Geschichte aufgeschrieben. Das kann wirklich sehr hilfreich sein. Danke, dass Du uns daran hast anteilnehmen lassen.
      Gruß. Bruder David

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