Wie bleibe ich innerlich unabhängig

Wie bleibe ich innerlich unabhängig?

 

Liebe Hildegard, bitte verzeih mir, dass ich Dir jetzt erst eine Antwort schreibe. Die letzten Wochen waren noch sehr davon geprägt, an Tristan, den verstorbenen Kater, zu denken. Er fehlt mir sehr! Außerdem hat mich Deine Frage: „Wie bleibe ich innerlich unabhängig?“ zum Nachdenken gebracht.
Ich habe erst mal darüber nachgedacht, ob das stimmt, dass wir Katzen so unabhängig sind und wir uns nicht danach richten, was andere von uns erwarten. Und dann habe ich darüber nachgedacht, warum das so ist und was ich Dir antworten kann.
Das ist eine ganze Menge für ein solch kleines Katzenköpfchen, kann ich Dir sagen. Ich habe also viel Zeit gebraucht und bin – ehrlich gesagt – manchmal darüber eingeschlafen. Nicht, weil es mich gelangweilt hätte, sondern weil es so anstrengend war.

Katzen sind nicht nur unabhängig

Du meinst wir seien so unabhängig? Ehrlich gesagt erlebe ich jeden Tag, wie abhängig ich von den Menschen bin. Ohne mein Herrchen bekomme ich weder Fressen noch etwas zu trinken. Und ich brauche natürlich auch meine Streicheleinheiten – auch da bin ich abhängig.
Außerdem muss ich Dir gestehen, dass ich manchmal etwas eifersüchtig bin. Auch nicht gerade ein Zeichen von sehr großer Unabhängigkeit, oder?
Ich weiß, dass ich mich in einer bestimmten Art und Weise verhalten soll, damit mein Herrchen sich freut und ich bemühe mich nach Leibeskräften (und es gelingt mir nicht immer, das weiß ich).

Katzen sind unabhängig

Das klingt wie ein Widerspruch zu dem, was ich vorhin schrieb – ist es ja auch. Dennoch erlebe ich auch das. Ich bin zwar abhängig, aber ich grüble nicht darüber nach, ob ich eine gute Katze bin, ob die andere Katze besser ist, was ich noch so machen könnte, um eine noch bessere Katze zu sein. Es ist mir wirklich total egal, ob andere meinen, ich sei eine tolle Katze oder nicht – solange ich etwas zu fressen, zu trinken bekomme und gestreichelt werde. Und selbst wenn ich das nicht bekomme, dann fehlt mir etwas, aber ich zweifle deshalb nicht an mir.

Anerkennung ist keine Materie

Manchmal, wenn ich Menschen so zuhöre, dann kommt mir die Idee, dass Menschen Anerkennung als etwas materielles auffassen. Man hat es oder man hat es nicht. Es kann nur einmal an einer Stelle sein und nie zugleich an beiden Stellen. Wenn der eine Anerkennung bekommt, dann kann die Anerkennung nicht zugleich bei mir sein.
Das bedeutet auch, dass man Anerkennung bekommen muss, weil sie entweder bei mir ist oder nicht. Verstehst Du? Ihr Menschen denkt, dass man Anerkennung entweder hat oder nicht, wie man ein leckeres Stück Käse entweder zwischen seinen Pfoten hat oder es zwischen den Pfoten der anderen Katze wiederfindet. Es kann nie zugleich in meinen Pfoten sein und in den Pfoten der anderen Katze. Für Käse stimmt das (leider) auch, aber es passt nicht für Anerkennung und Unabhängigkeit.
Ihr Menschen materialisiert Anerkennung, Unabhängigkeit und vieles anderes mehr.
Wenn jemand Anerkennung erhält, dann hast Du nicht weniger und wenn Dir jemand Anerkennung gibt, dann hast Du nicht mehr.
Das Geheimnis ist: Du bist längst unabhängig – hör auf, Anerkennung zu materialisieren.

Ich bin kein Rudeltier – Du schon

Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich bin kein Rudeltier, ich lebe immer schon alleine. Ich schätze es, eine Mitkatze zu haben (die ich manchmal ärgern kann) und ganz alleine fände ich es auch langweilig. Aber wir schmusen nicht zusammen, wir spielen nicht zusammen und wir fressen nicht einmal zusammen. In der freien Wildbahn lebe ich für mich ganz alleine.
Du bist ein Rudeltier, Du bist auf andere Menschen angewiesen, viel mehr als ich auf andere Katzen. Das verändert alles.
Ich vermute mal, wem Anerkennung fehlt, der kann schlecht die Distanz zu anderen Menschen ertragen. Wer nach Anerkennung sucht, sucht vielleicht auch Nähe. Ihr Menschen seid manchmal einfach zu sehr darauf aus, Kontakt zu haben und könnt das Für-sich-Sein nicht ertragen. Ich empfehle Dir, das Getrenntsein von anderen mehr Wert zu schätzen, das macht Dich unabhängig.

Mach einmal etwas Ungewöhnliches

Ich habe einmal von einer Katze aus Amerika gehört, dass es in San Francisco (übrigens ein echter Tierfreund, dieser Franziskus) eine Schule für Menschen gibt, wo man Unabhängigkeit lernen kann.
Dort machen die Teilnehmenden ganz komische und ungewöhnliche Dinge, um sich unabhängiger von der Meinung anderer zu machen. Sie legen sich einfach in der Fußgängerzone auf den Boden, tanzen auf der Straße und andere solche Sachen. Mach doch auch einmal etwas, was Dir vielleicht unpassend erscheint, was andere komisch finden. Du musst ja nicht gleich den ganzen Morgen auf der Straße liegen. Überlege einmal, was es für Dich sein könnte, was andere Menschen komisch finden. Dann mach es und lerne so, freier zu sein.

Es ist alles nur Kopfkino

Vielleicht ist ja auch das der Unterschied zwischen uns. Ich habe einen kleinen Kopf und ihr Menschen einen großen. Ich kann gar nicht so lange und so viel nachdenken wie ihr. Das Gefühl Anerkennung zu vermissen ist auch nur eine Kopfgeburt – Du denkst es. Du vergleichst Dich mit anderen, Du überlegst, was andere über Dich denken. Erkenne es als das, was es ist: Gedanken. Das schlimme ist nicht, dass Du das denkst, das Schlimme ist, dass Du Deinen Gedanken glaubst. Hör auf, Deinen Gedanken einfach so zu glauben. Niemandem würdest Du so einfach blindlinks Dein Vertrauen schenken, wie Du es mit Deinen Gedanken machst. Warum sollten Deine Gedanken immer stimmen? Im Grunde weißt Du ja längst, dass sie nicht stimmen – zumindest nicht immer.

Vor einer Zeit hat mir mein Herrchen eine Geschichte vorgelesen, die fand ich toll. Es kann eine kleine Übung sein, sich selber die nötige Anerkennung zu geben.
Vielleicht kennst Du sie ja schon:

Es war einmal ein Bauer, der steckte jeden Morgen eine Handvoll Bohnen in seine linke Hosentasche. Immer, wenn er während des Tages etwas Schönes erlebt hatte, wenn ihm etwas Freude bereitet oder er einen Glücksmoment empfunden hatte, nahm er eine Bohne aus der linken Hosentasche und gab sie in die rechte.

Am Anfang kam das nicht so oft vor. Aber von Tag zu Tag wurden es mehr Bohnen, die von der linken in die rechte Hosentasche wanderten. Der Duft der frischen Morgenluft, der Gesang der Amsel auf dem Dachfirst, das Lachen seiner Kinder, das nette Gespräch mit einem Nachbarn – immer wanderte eine Bohne von der linken in die rechte Tasche.

Bevor er am Abend zu Bett ging, zählte er die Bohnen in seiner rechten Hosentasche. Und bei jeder Bohne konnte er sich an das positive Erlebnis erinnern. Zufrieden und glücklich schlief er ein – auch wenn er nur eine Bohne in seiner rechten Hosentasche hatte.

Wenn Du für alles, was Du gut gemacht hast, was Du geschafft hast, eine Bohne von der einen Tasche in die andere steckst, wirst Du gewiss eine ähnliche Erfahrung machen.

Ich wünsche Dir viel Spaß dabei. Und: danke, dass Du mir geschrieben hast!

Valentin

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Valentin


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Kommentare

  • Lieber Valentin, danke für deine ausführliche Antwort. Da hast du dir ja richtig viele Gedanken gemacht. Manches, von dem was du geschrieben hast, kenne ich schon. Das mit den Bohnen zum Beispiel, das mache ich auf eine andere Art und Weise. Und das ist toll! Über andere Dinge muss ich erstmal nachdenken bzw. Sie auf mich wirken lassen. Ich danke dir sehr herzlich, dass du dir die Zeit genommen hast und wünsche dir einen entspannten Samstag Abend. LG Hildegard

    • Vielleicht ist ja mein Katzenhirn zu klein dafür, aber was möchtest Du mir denn sagen? Ich würde so gerne antworten… Valentin

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