Manchmal bekommen Worte eine neue Bedeutung – oder ich müsste genauer sagen: eine zusätzliche Bedeutung. Mit Lockerung habe ich seit vielen Jahren zu tun, mit der Lockerung der Muskulatur. Im Plural habe ich das Wort eigentlich nie genutzt – bis vor wenigen Wochen. Tatsächlich rede ich oft über nötige Lockerungen. Oft geht es dabei weiterhin um die Muskulatur, oft aber auch um die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen im Rahmen der Corona-Pandemie. In den letzten Tagen denke immer mehr darüber nach, wie das eine und das andere zusammenhängen. Bei meiner Arbeit in der Praxis begegne ich vielen Menschen, die in diesen Tagen körperlich sehr angespannt sind. Manche haben es schon bemerkt und sprechen es selbst als Thema für die Therapiestunde an. Manche sagen erst am Ende der Stunde, dass sie gar nicht wahrgenommen haben, wie angespannt sie waren.

In Unsicherheit spannt die Muskulatur an

Auch bei mir selber beobachte ich, wie mir eine Spannung in den Gliedern sitzt. In den letzten Wochen „will meine Nacken nicht richtig locker werden“, auch wenn ich manche Übung regelmäßig im Alltag wiederhole. Die Wechselwirkungen sind mir ja eigentlich seit langem bekannt: Der Spannungszustand der Seele überträgt sich allzu oft auch auf die Muskulatur. Aber auch die Umkehrung gilt oft: Wenn der Geist entspannt ist, lassen auch die Muskeln locker.

Unsicherheit ist dabei ein wichtiger Gegenspieler der Lockerheit. In der Unsicherheit spannt die Muskulatur an, um den Körper zu schützen. Dieser Reflex ist in der Menschheit seit langen Zeiten angelegt und schützt uns beispielsweise vor Bedrohung durch andere, vor dem Stürzen und Hinfallen.  Viele von uns haben in den letzten Wochen Unsicherheit erlebt. Das beginnt bei einem Virus, dessen Gefährlichkeit noch so wenig erforscht ist, dass es mehr Vermutungen als wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Die Unsicherheit, wie man richtig und angemessen mit dem Virus und der für uns entstehenden Bedrohung umgeht, prägt unsere Gesellschaft stark. Und für viele von uns hat sich der Lebensalltag wesentlich verändert seit Mitte März.

Eine neue Balance

Mir hilft in diesen Tagen der Blick auf meinen Körper: Um locker bleiben zu können, braucht der Körper vor allem Balance. Muskeln müssen sich anspannen und wieder entspannen können. Dort, wo diese Balance nicht mehr gelingt, dort, wo sich vor allem die Faszien nicht mehr schnell verändern können von der Anspannung in die Entspannung und wieder zurück, dort entstehen Missempfindungen und Schmerzen. Mit meinen Patienten übe ich dann, diese Bereiche wieder in Bewegung zu bringen, damit sie veränderbar und durchlässig werden.

Aber wie lässt es sich üben? Ich denke da manchmal an den Vers in den Psalmen „All meine Knochen kann ich zählen.“ Gemeint ist in der Bibel ein eher emotionsfreies Wahrnehmen der tatsächlichen Gegebenheiten: die Knochen und die Muskeln dazwischen mit den Faszien möglichst genau wahrzunehmen. Je genauer Du Deine Muskeln und Knochen (und sogar die feinen Strukturen dazwischen) wahrnehmen kannst, umso feiner kannst Du sie auch ansteuern. Und in diesem Moment suchen sich Deine Muskeln und Faszien von alleine eine neue Balance.

Wenn der Geist entspannt ist, lassen auch die Muskeln locker  – und umgekehrt

Die wichtigsten Lockerungen in diesen Tagen fangen in mir selber an – in meinem Körper. Jedenfalls bringt es den Körper in ein großes Wohlgefühl, wenn ich anfange, meine Knochen zu zählen und die Balance zwischen den Muskelgruppen, die sie verbinden, neu einzustellen.

Du musst ja nicht gleich mit dem ganzen Körper anfangen, es kann ein kleiner und überschaubarer Bereich sein: ein Arm oder Bein, die Schulter oder der Hals. Ich wünsche Dir jedenfalls viel Freude beim „Knochen zählen“ und bei der Wahrnehmung der Muskeln, damit sie bei Dir in eine wohlige Balance kommen. Und an dieser Stelle können mir die Lockerungen gar nicht schnell genug gehen…

Bruder Karl-Leo


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Kommentare

  • Danke für diesen wichtigen Impuls!
    Vielleicht macht es auch Sinn, den Ursachen (Stress, Bewegungsmangel, vieles Sitzen, falsche Schuhe) der Muskelverspannungen auf die Spur zu kommen und nicht nur die Symptome zu bekämpfen.
    Neben der Muskelwahrnehmung und dem “Knochenzählen” sind Wärme, Massagen, Akupressur, Dehn -und Bewegungsübungen und vor allem Übungen der progressiven Muskelentspannung nach Jacobsen zu empfehlen und für mich sehr entspannend…

  • Für mich ist seit vielen Jahren die Meditation nach Cassian eine gute Übung um meine Balance wieder herzustellen. Jeden Morgen 20 min., möglichst am späten Nachmittag bis frühen Abend die gleiche Zeit. Ich fühle mich danach frisch und gestärkt.

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