Eine Hand, die mich hält

Ein kleines Kind schreit, da kommt ein lieber und dem Kind vertrauter Mensch – häufig die Mutter – nimmt das Kind auf den Arm. Und das Kind hört auf zu schreien, wird ruhig. Eine bekannte Situation, die ich oft erlebt habe. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht wirklich erinnern kann, wie meine Mutter oder mein Vater mich auf den Arm genommen haben. Aber wenn ich alte Fotos anschaue, die mich als Baby in den Armen meiner Eltern zeigen, dann entstehen in mir bis heute diese Gefühle von „auf Händen getragen sein“. Jetzt bin ich manchmal in der umgekehrten Situation, darf ein mir vertrautes Kind in den Arm nehmen, es trösten und wieder in die Ruhe bringen.

Die Hand, ein Wunderwerk der Schöpfung

Dabei sind es vor allen meine Hände und eigentlich nur in ihrer Verlängerung auch die Arme, die mir diese tragende Rolle im Leben eines anderen ermöglichen. Immer wieder bewundere ich die Genialität der Hände. Fast die Hälfte der Knochen eines Menschen befindet sich in den beiden Händen. Und sie ermöglichen mir, in Verbindung mit Muskeln und Gelenken, meine Hand sehr fein und differenziert anzupassen. Die Hand kann sich beispielsweise an die Körperform eines Babys in besonderer Weise anpassen, wie auch an das Gewicht. Wenn das Kind wächst und mehrere Jahre alt ist, dann verbindet sich mit der weichen und sensiblen Berührung zusehends auch eine sehr kraftvolle Tätigkeit der Muskeln. Schließlich will ein junger Mensch mit einem Gewicht von vielen Kilogramm sicher gehoben und gehalten sein. Oft viele Jahre, bis ein Kind dann schließlich zu schwer geworden ist, um getragen zu werden – oder auch zu erwachsen geworden ist, um sich noch tragen lassen zu wollen.

„Auf Händen tragen“ oder „auf den Arm nehmen“

In unserer Sprache gibt es viele Redewendungen, die genau mit dieser Tätigkeit zu tun haben. Aber schon die Sprache macht die große Bandbreite von sehr angenehmen bis hin zu eher unangenehmen Qualitäten dieser Berührung deutlich. „Jemanden auf Händen tragen“ beschreibt eine sehr liebevolle und zugewandte Art und Weise, während „jemand auf den Arm nehmen“ eher das Gegenteil bedeutet. Das volle Gewicht eines Erwachsenen übernehmen wir im Alltag kaum, und doch möchten viele Menschen das Gefühl, getragen zu sein, nicht vermissen. Pflegende Berufe und Körpertherapeuten lernen in ihrer Ausbildung die Qualität einer professionellen Berührung. Sie üben sich ein, wie die Berührung etwas Heilendes, etwas Stärkendes haben kann. Auch hier ist es wie bei einem Kind, das ich hochhebe, die Balance zwischen der liebevollen Qualität und der sicheren Qualität.

Unsere Hand prägt die Berührung

In den vielen Zeichen der „zärtlichen Umarmungen“ und des liebevollen „in den Arm nehmen“ entdecke ich Annäherungen an das Tragen eines Kindes. Wenn auch die Begriffe dabei eher den „Arm“ benennen, geht die Berührung üblicherweise von der Hand aus. Die Fähigkeit der Hand, sich einfühlsam an den Körper des Gegenübers anzupassen, entscheidet darüber, wie angenehm, wie wohltuend und wie tragend eine Berührung von meinem Gegenüber empfunden wird. Eigentlich müssten wir von „zärtlichem Umhänden“ sprechen.

Kann man das üben – muss man das üben? Ja, ich glaube, wir Mensch müssen alle feinen Bewegungen der Hand tatsächlich üben, damit sie uns besonders fein gelingen – wie bei einem Musikinstrument. Einen Menschen zu tragen lernen braucht eine gewisse Übung. Sie braucht das feine Gespür für die Berührung, die im andern Einfühlsamkeit und Sicherheit entstehen lassen. Bei Babys lernen wir das ganz einfach: Wenn diese Gefühle entstanden sind, hören sie auf zu weinen. Bei Erwachsenen ist das manchmal schwieriger wahrzunehmen. Aber Erwachsene kann man dann auch einfach fragen.
Ich wünsche Euch jedenfalls viel Freude beim Tragen und getragen werden. Und das „tragen üben“ macht mir auch sehr viel Freude…

 

Bruder Karl-Leo


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Kommentare

  • Was für liebevolle, schöne Gedanken! Danke dafür. Und da fällt mir gerade der Zusammenhang zwischen „Gedanken“ und „Dank“ auf. Ist mir noch nie vorher aufgefallen.

  • Lieber Karl-Leo!
    Was für eine wundervolle Bezeichnung: „zärtliches Umhänden“. Ich habe eine kleine Gebets-Scheckkarte mit einem Foto, die genau das zeigt: Ein Säugling, der so gehalten wird, dass sein Kopf zwischen den haltenden Händen ruht. Auf dieser Scheckkarte ist neben dem Bild der sehr wohltuende Text „Geborgen“ von Petra Wirth abgedruckt: Geborgen in den Händen des Vaters darf ich getrost erwarten, was mir die Zukunft bringt, allen Schwarzsehern zum Trotz. Ich vertraue darauf, dass diese Hände mich führen werden und leiten, bis ich sicher am Ziel ankomme. In manchen Momenten, wenn mich die Angst überfällt, ich den Mut verliere, nicht mehr weiter weiß, erinnere ich mich daran, dass einer mich in Händen hält und ich weiß, ich kann das Dunkel aushalten, weil ER mich hält.
    Hab Dank für die Fortsetzung der Gedanken zum Thema Hand!
    Renate

    • Liebe Renate, danke Dir für Deine Zeilen. Ich habe versucht, auch das Bild, von dem Du schreibst, hier hochzuladen – es ist mir aber leider noch nicht gelungen

  • Ich wuensche allen Lesern dieses schoenen nochmals eingestellten Beitrags, dass sie das Glueck haben, im neuen Jahr getragen und angenehm beruehrt zu werden. Moege es gelingen, selbst einfuehlsam und im „tragen geuebt“ zu sein, damit sich der Andere vertraut, sicher und geborgen fuehlt.

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