Das Wunder Deines Wesens
„Meine Sinne öffne mir, dass ich die Wirkung Deines Wesens wahrnehme“ Ps 119,18
Diesen Vers singen wir häufig in unserem Chorgebet. Vor kurzem erst ist mir aufgegangen, wie wichtig mir diese Bitte geworden ist. Wenn ich mich in Gedanken oder Gefühlen verliere, sind mir meine Sinne hilfreich, mich wieder zu finden. Die Umgebung und meinen Körper mit meinen Sinnen bewusst wahrzunehmen gibt mir Halt in der Unruhe meines Geistes. Die sinnliche Wahrnehmung verbindet mich mit meinem tiefen Grund. Wie ein Anker dem Boot Ruhe und Halt im unruhigen Meer gibt, schenkt mir das sinnliche Wahrnehmen einen Orientierungspunkt und Ruhepol im gedanklichen und emotionalen Chaos.
Es gibt Situationen, in denen ich nur das Negative sehe und immer wieder gedankliche Schleifen um die herunterziehende Thematik ziehe. Meine Gedanken kreisen darum, wie ich hätte reagieren sollen, wenn ich von meiner Reaktion in einem Gespräch enttäuscht bin. Sie kreisen darum, wie ich dem anderen demnächst einmal deutlich die Meinung sagen könnte. Sie kreisen um Ängste, um das, was es noch alles zu tun gibt und darum, wie schlecht es mir eigentlich geht. Aus diesem herunterziehenden Gedankenstrudel kann ich befreit werden, in dem ich diesen Psalmvers als Hilfeschrei Gott zu rufe. Gleichzeitig wende ich mich meinen Sinnen zu und frage mich, wie ich meinen Körper fühle, wie meine Verbindung zum Fußboden ist, welchen Fluss mein Atem hat und welche Spannungen im Körper meine Stimmung prägen. Dann komme ich wieder in der Gegenwart an, Gedanken und Gefühle werden entmachtet und eine gewisse Entspannung macht sich breit. Ich werde auf einer tieferen Ebene geöffnet und die Wirklichkeit um mich herum weitet sich. Gottes Da-Sein, die Wirkung seiner Liebe in mir beginnt, sich zu entfalten und ich kann mich von ungerechten Urteilen und aus meiner Enge lösen. Das übe ich immer wieder in stillen Phasen während unseres gemeinsamen Chorgebetes und in der Meditation mit dem Jesusgebet. Aber ich erinnere mich selbst auch immer wieder daran, wenn ich unterwegs und unter Menschen bin und merke, wie abwesend und gehetzt ich gerade bin. Dann erdet mich dieser Psalmvers und die Hinwendung zur Wirkung Gottes durch das Achten auf meinen Körper, auf meine Sinne. Es entsteht ein Raum, in dem Gott durch seine liebende Gegenwart in mir wirken kann. Die Früchte aus dieser Öffnung meiner Sinne für das Wirken seines Wesens in dieser Welt und in meinem Innersten sind manchmal gewachsene Gelassenheit, Vertrauen, Entspannung und Mitgefühl im Umgang mit dem Menschen, der mir gerade gegenüber steht.
In welcher Lebenssituation könnte man diesen Psalmvers jemandem an die Hand geben?
Wenn jemand sich beklagt, dass er aus seinem negativen Gedankenkarussell nicht aussteigen kann, ist dieser Vers vielleicht hilfreich. Oder wenn jemand sich in negativen Gefühlen verliert und überall nur Dunkel und Traurigkeit verspürt, könnte diese Bitte helfen, die eigenen Sinne für die Wunder der Schöpfung und des Lebens zu öffnen.
Angenommen der Vers wäre der Titel eines Filmes: Wovon würde der Film handeln?
Der Film könnte davon handeln, dass jemand, der bisher so strukturiert war, überall das Negative zu sehen, erlernt (vielleicht durch eine Wunderpille, die er dann jedes Mal nimmt), in allem auch die gute Seite zu entdecken und selbst aus dem schlimmsten Misserfolg eine neue Perspektive entwickelt und darin die Chance für einen anderen Weg entdeckt. Es könnte eine Komödie sein, weil man als Zuschauer nicht damit rechnet, dass aus dem Pech und aus dem Katastrophalen plötzlich etwas Schönes und Gutes entsteht, weil es im Kleinen und Unscheinbaren verborgen war und nun von dem Protagonisten gefunden und ergriffen wird. So entstehen vielleicht ganz groteske und unerwartete Szenen.
Bruder Prior Johannes Tebbe OSB
Prior vom Kloster Nütschau