„Du sollst vergeben.“ Dieser Satz begegnet uns überall. In vielen spirituellen Richtungen gilt Vergebung als die Krönung des inneren Wachstums. Wir hören Sätze wie: „Vergib. Es ist gut zu vergeben. Du bist frei, wenn du vergibst.“ Oft spüren wir diesen Druck auch von anderen: „Warum vergibst du nicht endlich?“

Vergebung spielt in den großen Weltreligionen eine zentrale Rolle. Es scheint das ultimative Ziel zu sein, demjenigen zu vergeben, der uns Unrecht getan hat. Aber ich sage: Du musst nicht vergeben. Und ich sage sogar: Manchmal darfst du auch gar nicht vergeben.

Vergebung als Befreiung – aber nicht um jeden Preis

Natürlich ist Vergebung gut und wichtig. Für viele Menschen ist es eine echte Befreiung, jemandem zu vergeben, der sie hintergangen oder betrogen hat. Vergebung bedeutet aber nicht, dass alles wieder gut ist. Vielmehr bedeutet es, dass wir loslassen. Wir lassen die Wut, den Ärger und die negativen Gefühle los, die uns wie Ketten an die Vergangenheit binden. Wir geben vielleicht auch unsere Ansprüche auf, dass der andere sich entschuldigen oder etwas wiedergutmachen muss. Wir tun das, um uns selbst zu befreien.

Warum also sage ich, dass man nicht immer vergeben muss oder sogar nicht darf? Weil wir oft viel zu früh vergeben. Der Satz „Du musst endlich vergeben“ kommt in der Regel zu früh. Vergebung ist meistens ein langer Prozess. Je nachdem, was passiert ist, kann dieser Prozess Jahre dauern. Erst wenn wir innerlich bereit sind und die Zeit reif ist, kann Vergebung geschehen. Sie ist immer eine freie Entscheidung. Man kann sie nicht einfordern oder dazu drängen.

Was Vergebung wirklich bedeutet

Vergebung braucht Zeit und Reife. Du kannst diese Reife verpassen, indem du es zu früh erzwingst. Und es gibt sicherlich auch Taten, die einfach nicht zu vergeben sind. Sie lassen sich vielleicht nur ruhen, aber niemals verzeihen. Deshalb sollten wir vorsichtig sein mit schnellen Sprüchen wie „Du musst endlich vergeben.“ Das ist eine zu einfache Sichtweise, die die Komplexität der Situation völlig ignoriert.

Lass dir Zeit. Du musst gar nichts. Du darfst, wenn du es möchtest.

Das Wichtigste ist: Schade dir nicht selbst. Wenn dir etwas angetan wurde, ist es dein oberstes Ziel, nicht länger unnötig zu leiden. Befreie dich von dem Schmerz. Erlaube dir stattdessen, das Erlebte in seiner Tiefe zu spüren und zu verstehen. Heilung beginnt oft mit dem ehrlichen Anerkennen des Schmerzes, mit dem Aussprechen dessen, was war, und mit dem Setzen innerer Grenzen.

Manchmal ist Vergebung ein späterer Schritt in einem Reifungsprozess – nicht der erste. Sie kann kommen, wenn Wut sich gelegt hat, wenn Verständnis gewachsen ist oder wenn die Verletzung ihren Platz gefunden hat, ohne dich ständig zu verbrennen. Und manchmal bleibt Vergebung aus, weil das Unrecht so fundamental war, dass nichts es aufhebt. Dann ist es sinnvoll, die verletzende Geschichte zu integrieren, ohne weiter an ihr zu leiden.

Vergebung darf also kein gesellschaftlicher Zwang sein. Sie ist keine Pflichtübung, die Komfort für andere schafft und dich selbst weiter verletzt. Sorge zuerst für deine innere Sicherheit und Integrität. Pflege dich, suche Unterstützung, nimm dir die notwendige Zeit zur Trauer und zum Wiederaufbau.

Wenn Vergebung dann auf natürliche Weise entsteht, ist sie ein Geschenk – nicht an den Täter, sondern an dich selbst, weil sie die Last reduziert und Heilung zeigt. Wenn sie nicht entsteht, kannst du dennoch Frieden finden, indem du dich weiser und achtsamer gegenüber dir selbst zeigst.

David Damberg


das könnte Dich auch interessieren:

Kommentare

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

Abonniere unseren Klosterbrief!

Der Klosterbrief kommt zweimal im Monat heraus und infromiert über unsere Klostergemeinschaft, unsere Veranstaltungen, Gottesdienste und gibt Impulse zum spirituellen Leben.
Datenschutzerklärung

>